"Mein Wunsch ist es, die Achtsamkeitspraxis noch vielen Menschen als Schlüssel zu einem gesunden und glücklichen Leben vermitteln zu dürfen."
Isabella, du unterrichtest schon seit vielen Jahren MBSR. Wie bist du dazu gekommen?
Ein Freund hat mich auf Jon Kabat-Zinn, der Begründer von MBSR, aufmerksam gemacht.
Ich las sein Buch, das hat mich total angesprochen. Dann kam der erste MBSR Kurs. Ich war so
von der Wirkung angetan, dass ich ihn sofort wiederholte, um mein tägliches Üben zu festigen.
Später habe ich selbst die Ausbildung absolviert, zunächst nur für mich zum vertieften Verstehen.
Mich packte im Anschluss die Lust, selber zu unterrichten.
Was begeistert dich bis heute daran?
Mir hat von Anfang an vieles gefallen.
Dazu zählt der säkulare Ansatz. Außerdem baut der Kurs auf einem sehr klaren Konzept auf:
Meditation und achtsame Selbstführung wird in verständlichen Schritten vermittelt und integriert.
Dabei werden auch Erkenntnisse aus der Neurowissenschafts-Forschung berücksichtigt. Die
Teilnehmenden lernen so, wie sie eigene Gedanken-, Gefühls- und Verhaltensmuster erkennen und
geschickter mit ihnen umgehen können. Mit diesen pragmatischen Achtsamkeits-Übungen für den
Alltag vertiefen und verfeinern ihren Lernprozess. Es geht ja darum, eine achtsame Haltung so zu
verinnerlichen, dass es möglich wird allem, was wir erleben, bewusst und einfühlsam begegnen zu
können.
Was mich auch nach 15 Jahren immer noch fasziniert und begeistert ist, wie wirksam das
Programm ist und wie es jede/n da abzuholen vermag, wo er/sie gerade steht im Leben.
Achtsamkeit fungiert wie ein Schlüssel: Welche Räume du damit für dich öffnest, steht dir frei. Du
kannst Stress reduzieren, mental zur Ruhe kommen, Beziehungen vertiefen, körperliches und
mentales Wohlbefinden, Gefühlstoleranz, Klarheit und innere Freiheit stärken.
Jon Kabat-Zinn hat ja vor 30 Jahren in den USA erstmalig MBSR in eine Klinik
integriert. Wie sieht es in Deutschland aus: Spielt MBSR in deutschen Kliniken
eine Rolle?
JKZ hat sogar schon 1979 den ersten MBSR Kurs an der University of Massachusetts Medical School
durchgeführt, also vor 44 Jahren. Ursprünglich war der Kurs für Menschen gedacht, die im
klassischen Sinne als austherapiert galten, d.h. für Kranke, denen man nach dem damaligen Stand
der Medizin einfach nicht mehr weiterhelfen konnte, wie zum Beispiel Menschen mit Krebs,
chronischen Schmerzen, MS, Parkinson sowie lebensbedrohlichen Krankheiten. Also Menschen, die
sich in einer existenziellen Lebenskrise befanden. Der Kurs war zur mentalen Unterstützung gedacht.
Und wurde ein fulminanter Erfolg, der sogar den Anstoß gab für eine völlig neue Betrachtungsweise in
der Medizin.
Viele Teilnehmende erlebten nämlich eine deutliche Verbesserung ihrer Symptome und
konnten ihre Medikamente reduzieren. Vor allem jedoch gewannen sie ihre Zuversicht zurück, dass
ihnen trotz Schmerzen und Krankheit ein erfülltes Leben möglich war, sowie das Wissen darum, wie
sie dies angesichts ihrer massiven Probleme und Einschränkungen konkret anstellen konnten.
Es ist maßgeblich Jon Kabat-Zinn als Impulsgeber zu verdanken, dass die Body-Mind-Medizin sich
daraus entwickelte. Denn als Forscher hatte er sofort die Chance ergriffen, um begleitende
wissenschaftliche Studien über die Wirksamkeit von MBSR und Achtsamkeitspraxis durchzuführen.
Die Fülle an positiven Daten und Effekten des Trainings haben dann auch in vielen Kliniken weltweit
einen neuen Umgang mit chronischen Krankheiten gefördert. In Deutschland ist die Body-Mind-
Medizin seit Jahrzehnten Schwerpunkt der Evangelischen Kliniken Essen, die inzwischen regelmäßig
Summer Schools als Fortbildung zu diesem wichtigen Thema anbietet. In Berlin gibt es das Immanuel-
Krankenhaus am Wannsee, das sich ebenfalls dem Body-Mind- Ansatz verschrieben hat. Und viele
REHA-Kliniken arbeiten inzwischen mit achtsamkeitsbasierten Ansätzen.
Ich beobachte derzeit zwei verschiedene Trends: Einerseits sind Yoga, Meditation und das
Thema Achtsamkeit, Entschleunigung, die Sehnsucht nach einem bewussten Leben in der
Mitte der Gesellschaft angekommen. Andererseits sprechen viele Daten dafür, dass es immer
mehr Menschen mit psychischen Problemen gibt. Wie passt das für dich zusammen? Teilst du
diese Beobachtung?
Das ist eine sehr interessante Beobachtung und Gegenüberstellung. Ja, die Themen Meditation
und Achtsamkeit sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und die Sehnsucht nach einem
entschleunigten Leben steigt vermutlich noch weiter, je mehr Dichte und Komplexität in der modernen
(Arbeits-) Welt zunehmen. Ob und wie die Sehnsucht nach einem bewussteren Leben individuell
umgesetzt werden kann, wenn systemische Gegebenheiten dem entgegenwirken, ist und bleibt eine
spannende Frage.
Eindeutig lässt sich jedoch feststellen: Die Achtsamkeitspraxis hat eindeutig positive gesundheitliche
Effekte für alle, die sie anwenden. Das belegen die Studien. Das kann ich auch bei meinen Klienten
beobachten. Achtsamkeit ist keine oberflächliche Technik, mit der sich die Wogen mal schnell glätten
lassen. Sie ist auch kein Weg, um noch mehr Saft aus einer Zitrone zu pressen. Sie ist kein
Selbstoptimierungsinstrument. Sie geht viel tiefer. In die Richtung: Wie kann ich mein Leben
bewusster gestalten? Wie werde ich KapitänIn meines Schiffes und wie kann ich es souverän durch
die Stürme und Erschütterungen des Lebens steuern?
Dies ist natürlich umso wichtiger, je stärker jemand psychisch belastet ist. Dass die Anzahl von
Betroffenen weltweit stark gestiegen ist, stellt eine große Aufgabe für unser Gesundheitssystem und
für unsere gesamte Gesellschaft dar. Vermutlich sind die Gründe für so eine Entwicklung
multifaktoriell. Junge Menschen stehen so vielen komplexen und umwälzenden Entwicklungen
gegenüber – wie erleben sie zum Beispiel die Klimakatastrophe, das Artensterben, die Informationsflut
und Desinformationen, die rasante Veränderung der Arbeitswelt, die vielen gesellschaftlichen
Spannungsherde? Wie sind ihre Aussichten auf dem Wohnungsmarkt? Und all das nach den Jahren
der Pandemie mit erhöhter Isolation. Wie viel Natur erleben sie täglich?
Wieviel Bewegung? Welches Essen? Wie nährend sind ihre persönlichen Beziehungen? Ermutigen
unsere Städte und Umgebungen soziale Kontaktaufnahme und Verbundenheit? Wie viel Ruhe, Schlaf
und Erholungsphasen genießen sie? Wie sinnhaft und wie selbstbestimmt erleben sie ihre Arbeit und
ihre Rolle in der Welt? All diese Faktoren wirken. Sie sollten mit bedacht und erforscht werden.
Natürlich nicht nur in Bezug auf junge Menschen, aber bei ihnen
besonders.
Was treibt dich an?
Mein Wunsch ist, die Achtsamkeitspraxis noch vielen Menschen als Schlüssel zu einem gesunden
und glücklichen Leben vermitteln zu dürfen. Denn für die bevorstehenden Veränderungen unserer Zeit
braucht es Menschen, die über viel innerliche Kraft verfügen, diese mit Respekt, Umsicht, Klarheit und
einem sehr langen Atem in Bahnen zum Wohle Aller zu lenken.
Isabella Winkler bilden auch seit vielen Jahren in MBSR aus und bietet Retreats in Klöstern an.
Mehr Infos zu Ausbildungsangeboten und Workshops hier:
https://www.mbsr-berlin.org/mbsr-seminarkalender/
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Heidemarie (Dienstag, 16 Mai 2023 15:44)
Liebe Gabriele
ein toller, informatiover Beitrag. Ich durfte die Methode auch schon ausprobieren und war sehr begeistert. Man spürt die Wirkung unmittelbar!