"Singen ist eine Ursehnsucht des Menschen"
Kordula Voß arbeitet in Berlin als Musiktherapeutin, Singleiterin, Yogalehrerin und Gestalttherapeutin. Seit Gründung des Netzwerkes „Singendes Krankenhaus“ ist sie als Singleiterin in diesem Kreis aktiv. Ein Gespräch über heilsames Singen in- und außerhalb von Krankenhäusern, das wachsende Netzwerk und Singen unter Corona-Bedingungen.
Was hat dich bewogen, beim „Netzwerk singendes Krankenhaus“ aktiv mitzuwirken?
Es war einfach so: Ich war bereits vor Gründung des Netzwerkes schon länger als Musiktherapeutin mit verschiedenen Patientengruppen tätig. In den Kliniken werden ja auch schon mal die klassischen Volkslieder gesungen und mit Suchtpatienten habe ich auch schon den einen oder anderen Schlager geträllert. Ich selbst singe ohnehin sehr gerne. Aber irgendwann habe ich festgestellt, dass bei der musiktherapeutischen Arbeit das Singen etwas zu kurz kam.
Und dann war ich mit einem Kollegen auf einer Tagung, bei der es um Singen mit Traumatisierten ging. Oder um Musiktherapie mit Traumatisierten, was eher schwierig ist. Ich erinnere mich an Frau Luise Reddemann, eine der bekanntesten Traumatherapeut*innen in Deutschland. Sie war Teilnehmerin der Tagung und sagte uns: „Singt mit den Menschen! Singt mit den Leuten. Singt mit den Leuten!“
Das hat mich sehr neugierig gemacht.
Der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger war es dann, der die Initiative ergriffen hat und auch gleichzeitig mit den ersten Weiterbildungen für Singleiter*innen begann. Daran habe ich dann sofort teilgenommen. Ich war vollkommen begeistert und habe auch sofort in der Klinik, in der ich gearbeitet habe, die erste Singgruppe gegründet. Mir hat es gutgetan, den Patient*innen hat es gutgetan. Ich habe gemerkt, wie groß die Sehnsucht der Menschen ist zu singen.
Parallel zur Weiterbildung hat sich der Verein gegründet. Und ich habe mich dann gleich im Verein in der Weiterbildung für den Psychiatriebereich engagiert.
Du hast gesagt, bei der Musiktherapie sei das Singen zu kurz gekommen. Erreicht man therapeutisch „mehr“ mit dem Singen? Ist Musiktherapie begrenzter in seiner Wirkung?
Das kann man so nicht sagen. Es ist nicht besser, sondern anders. Klassische Musiktherapie- so wie ich sie studiert habe- arbeitet viel mit Instrumenten, freier Improvisation, mit Reflexion und der Integration der persönlichen Erfahrungen. Das kann toll sein. Und für manche ist das auch eine Überforderung. Das Singen ist niedrigschwelliger, der Zugang ist einfacher und es passieren ein bisschen andere Sachen. Ich glaube, dass es eine Ursehnsucht gibt zu singen und nach Gemeinschaft. Das Singen wirkt auf vielen Ebenen - körperlich, seelisch. Es beeinflusst uns hormonell und es werden Neurotransmitter ausgeschüttet. Es ist vielleicht erstmal eine kleine Hürde, aber andererseits ist da diese Sehnsucht.
Da kann sich dann etwas lösen und entwickeln, das auch therapeutisch weiter wirken kann oder einfach gut tat.
Gibt es Schlüsselerlebnisse, besondere Erfahrungen, die du in all den Jahren beim Singen mit Patient*innen gemacht hast und mit den Singgruppen außerhalb von Kliniken?
Ach, das gibt es sehr viele solche Erfahrungen. Es gibt immer wieder sehr, sehr berührende Momente.
Spontan fällt mir Folgendes ein: Es gab eine Patientin, die ich sehr lange begleitet habe über einzelne Phasen. Und als ich sie dann nach Jahren gefragt habe, was für sie der wichtigste Moment war, lautete ihre Antwort: „Als Sie sich mit mir hingesetzt haben und mit mir das Lied „ You have got a friend“ gesungen haben.“ Erst war ich fast ein bisschen beleidigt. Denn schließlich hatte ich sie ja lange begleitet, hoch reflektiv gearbeitet, bin therapeutisch und gesprächstechnisch tief eingedrungen. Und es war natürlich eine total spannende Rückmeldung. Es zeigte mir eben, wie wichtig das Singen für ihren Prozess war und dass nicht immer das, was wir für Patienten wirksam halten das ist, was sie selber erleben.
Es ist auch schön, dass Gruppen sich selbst über das Singen regulieren. Das haben wir ja auch in unserer freien Singgruppe gemerkt. Das Singen hat Verbindung gestiftet und den Zusammenhalt gestärkt- gerade jetzt auch in den Corona Zeiten.
Seit der Gründung des Netzwerkes sind mehr als 10 Jahre vergangen. Wie siehst du die Entwicklung: Sind die Krankenhäuser offener geworden für das Integrieren von Singgruppen?
Das ist natürlich unterschiedlich. Grundsätzlich glaube ich, dass die Türen offen sind. Das hängt manchmal zum Beispiel auch davon ab, ob man einen Chefarzt hat, der vielleicht auch mal im Chor gesungen hat oder inwieweit Kliniken offen sind für alternative Angebote und Neues. Und dann ist natürlich im Gesundheitsbereich immer die Frage, für was Geld ausgegeben wird. Andererseits sind die Kliniken ja auch gezwungen, sich zu positionieren und ein eigenes Profil zu entwickeln, gute Bewertungen im Internet zu bekommen etc. Was viele Einrichtungen sehr schätzen, ist, dass das Angebot sehr integrativ ist. Wenn 150 Leute pro Woche in einer Klinik singen, dann sorgt das im Übrigen auch für ein gutes Klima.
Übrigens: Das Singen im Krankenhaus war ein Patientenauftrag. Wolfgang Bossinger, den ich eingangs erwähnt habe, hatte als Musiktherapeut in einer großen Psychiatrie-Klinik in Göppingen eine Singgruppe angeboten. Er hatte sich bereits zuvor Jahrzehnte mit der Heilkraft des Singens beschäftigt, er hat auch darüber ein tolles Buch geschrieben. Er war der erste, der in einer Klinik eine feste Singgruppe ins Leben gerufen hat. Die Patient*innen waren so begeistert, dass sie gesagt haben: Dass muss es unbedingt auch in anderen Krankenhäusern geben. Anfangs waren drei Menschen in seiner Gesangs-Gruppe, irgendwann waren es 150. Daraus entstand dann die Initiative „Singende Krankenhäuser.“
Für viele Freiberufler*innen und Künstler*innen hatte die Corona-Pandemie bzw. die – Maßnahmen existenzielle Auswirkungen. Wie ist es dir ergangen?
Natürlich gab es am Anfang Panik, besonders weil das Singen dann ja auch sehr schnell verboten war. Ich habe mich sehr schnell umgestellt und Singen per Zoom angeboten. Das hat sehr gut geklappt und das hat viele durch die Zeit getragen. Es ist uns gelungen, auch unter diesen veränderten Bedingungen, eine Gemeinschaft zu bilden. Manches konnte aber auch nicht mehr in den Kliniken stattfinden oder eben auch Singen in Präsenz war lange nicht möglich.
Nach wie vor ist es mühsam und es ist vor allem sehr schwierig, Räume zu finden, die groß genug sind für freie Singgruppen. Das ist natürlich sehr anstrengend, immer zu schauen, was geht gerade und was nicht. Aber das geht ja vielen so.
Was sind deine Wünsche für die Zukunft?
Wir sind jetzt gerade natürlich noch etwas ausgebremst.
Aber davon abgesehen. Es ist mir ein großes Anliegen, dass das Singen mehr und mehr in den Krankenhäusern stattfindet. Ganz unabhängig davon, ob ich es bin, die die Singgruppen anleitet oder nicht. Ich bin da vollkommen frei von Konkurrenz-denken. Hauptsache, es findet statt.
Ich bin davon tief überzeugt, dass das Singen zum Beispiel für Menschen in der Psychiatrie und in psychosomatischen Kliniken, im Gerontobereich, für Parkinsonpatienten, Krebserkrankte etc. eine sehr große Hilfe ist. Daher ist es mein größter Wunsch, dass mehr und mehr Menschen davon profitieren können. Es könnte viel mehr solcher Angebote geben! Gerade für Menschen, die rausfallen aus dem System, die krank sind, die in Krisen sind, ist das Singen manchmal der einzige Weg, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Es gibt zum Beispiel auch Forschungen mit Obdachlosenchören; das ist sehr berührend.
In jeder Klinik könnte es eine Singgruppe geben! Alles kann dadurch besser werden. Die Atmung! Das Ausschütten von Neurotransmittern. Das Erleben von Gemeinschaft ist ein großer Gewinn. Das sind alles Faktoren, die sehr wesentlich sind für die Heilung.
Du hast es in deiner Arbeit fast täglich mit Menschen zu tun, denen es schlecht geht, die krank sind, vielleicht isoliert, vielleicht nicht mehr lange leben werden. Was trägt dich? Was gibt dir die Kraft für diese Arbeit?
Ich liebe sehr, was ich tue. Die Singgruppen selber laden mich natürlich auch selber oft auf. Ich arbeite jetzt schon zwanzig Jahre als Musiktherapeutin, 15 Jahre als Singleiterin und liebe meine Arbeit und die ihre Vielseitigkeit.
Und natürlich ist die Arbeit in den Kliniken und mit Teams auch anstrengend. Manchmal kriegt man auch Sachen ab, die nicht zu einem gehören.
Neben dem Singen sind die Yogapraxis und viel Bewegung in der Natur für mich sehr wichtig. Ich bin gut in der Psychohygiene. Meine Freiberuflichkeit erlaubt mir, nach meinem eigenen Rhythmus zu leben. Und das ist für mich wesentlich, um in meiner Kraft zu bleiben.
Mehr Informationen zu Kordula Voß und Ihren Singangeboten: https://www.klang-hafen.de/
Über das Netzwerk „Singende Krankenhäuser“
2009 wurde das Netzwerk „Singende Krankenhäuser - internationales Netzwerk zur Förderung des Singens im Gesundheitswesen“ in Stuttgart gegründet.„Singen ist ein Menschenrecht“ titelt es programmatisch auf der Website der Initiative. 2012 erhielt das erste Krankenhaus in Deutschland das Zertifikat „Singendes Krankenhaus“. Das war das „Josephinchen“ in Berlin. Mittlerweile haben sich in Deutschland 70 Kranken-häuser als „singendes Krankenhaus“ zertifiziert. „Bedenkt man“, konstatiert Vera Kimmig vom Vorstand und Leiterin der Geschäftsstelle des Netzwerkes, „dass wir über 2.000 Krankenhäuser in Deutschland haben, bleibt da noch vieles zu tun. Corona hat die psychische Verfassung vieler Menschen durch Isolation noch einmal erheblich verschärft und wir glauben, dass es wichtiger denn je ist, das Singangebot aus-zubauen.
Das Netzwerk ist seit Anbeginn im Weiterbildungsbereich sehr engagiert. Jedes Jahr finden 16 Weiterbildungswochenenden statt. Seit Gründung wurden rund 4.000 singfreudige Menschen, die zum großen Teil aus therapeutischen und pflegerischen Berufsgruppen kommen, zu Singleiter*innen ausgebildet.
Mehr Infos: https://singende-krankenhaeuser.de/home.html
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