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Havelberg, blaues Paradies mit Handicaps

Schon vor zwei Jahren hatte ich gehört, Havelberg sei ein Paddlerparadies, außerdem eine richtige schöne kleine Stadt. Also nichts wie hin. 3-Sterne-Pension Havelblick gebucht, Fahrkarten gekauft bis Glöwen im Nordwesten von Brandenburg. Das Örtchen liegt eine gute Zugstunde vom Bahnhof Zoo entfernt. Von dort sind es 11 Km mit dem Rad in die Hansestadt Havelberg. Obwohl wir mit der Radkarte „Havelradweg“, der Komoot-App und Google Maps ausgestattet sind, fahren wir erstmal in die falsche Richtung.…

 

Unser erster Eindruck bei der Ankunft...

...eine blaue Oase, wunderschön. Aber ausgestorben. Ein idyllisches Museumsdorf mit stolzer hanseatischer Geschichte, komplett denkmalgeschützt, mit einer Stadtmauer, einem Dom, einem ehemaligen kleinen BUGA-Gelände, einem Yachthafen mit vielen Booten, einem Campingplatz. 946 wurde Havelberg 946 Bisstumsitz. Die Zeit der Domherren ist natürlich längst Geschichte. Uns begegnen lebensgroße Skulpturen vom  Zar und von Friedrich Wilhelm I. Die stehen auf dem Domplatz. Wir haben keine Lust, uns zu informieren, warum die da stehen. Hat irgendwie was mit dem Bernsteinzimmer zu tun. Ich bin heute nicht geschichtshungrig.

 

Wir schauen uns um, flanieren ein paar Straßen entlang. Die Stadt wirkt als wären alle in Quarantäne. Wo sind die Menschen? Alle zuhause? Alle im Garten? Alle woanders? Alle auf ihren Booten?

 

Wir quartieren uns erstmal bei Frau Strunck in der „Pension Havelblick“ ein. Die Unterkunft ist sehr angenehm, unsere Gastgeberin sehr sympathisch, unser Zimmer völlig in Ordnung. Meine Freundin warnt allerdings: „Da drüben wird auf dem Schiff gefeiert. Wir werden kein Auge zutun.“ Ich ignoriere diese Ankündigung. Leider hat sie recht. Um Mitternacht geht die Party erst richtig los, zum Glück ist es "nur" Rockmusik. Es hätte schlimmer kommen können.

 

Kulinarische Wüste....

 

Wir haben am ersten Abend nicht nur Pech mit dem lautstarken Partyvolk von gegenüber in einer sonst so gespenstisch ruhigen Stadt, sondern auch mit dem „Italiener“. Meine Begleiterin hat immer größte Sorge, dass wir ins Brandenburg abends gar nichts mehr zu essen bekommen. Sie hatte sich schon vorher erkundigt und herausgefunden: Es gibt einen Italiener. Großartig. Was wäre Deutschland ohne italienische Restaurants?

 

Wir laufen vergnügt die Domtreppe hoch, genießen den fulminanten Ausblick und prächtigen Dom und kehren erwartungsvoll im „Dolce vita“ ein. Dann die Enttäuschung: Es ist das schlechteste Essen, was wir seit Jahren gegessen haben. Wir essen nur, weil wir ohne Alternative sind. Meine Freundin lässt das meiste Essen stehen. Unser Kellner, ein Ägypter, ist sehr nett und erkundigt sich häufig wie es uns geht. Ich schweige. Das Gemüse ist ungenießbar, vollkommen verkocht, ohne Gewürze, ohne Geschmack, alles wie zermatscht. Weitere Details zu dem Fisch und Fleisch erspare ich allen hier. Es ist eine Zumutung.

 

Die zweite Zumutung folgt gleich danach, die Bootsparty.

 

Wir haben Pech am ersten Abend.

 

 

Der Sonnabend

Neuer Tag, neues Glück.

 

 

Meine Freundin warnt: „Es soll sehr heiß werden“. Sie wird wieder recht haben.

 

Der Vormittag ist vom Suchen, Fragen und Staunen geprägt. Staunen: Weil die Touristik-Information erst um 13 Uhr öffnet hat. An einem Sonnabend! Hallo, liebes Stadtmarketing: Warum?

 

Fragen: Weil wir keinen Geldautomat finden, an dem ich Geld abheben kann. Das müssen wir aber, weil wir die Pension bar bezahlen müssen.

 

Suche: Wo sollen wir heute Abend essen? Meine Begleiterin und ich gehen zu einem Restaurant am Wasser, liegt direkt an der Straße, egal. Es ist 11 Uhr. Reservierung geht nicht, wir sollen später wiederkommen. Meine Begleiterin gibt nicht auf, spricht noch jemanden an, auf einmal klappt es. Wir haben reserviert. Platz im Schatten. Und hoffen, dass wir keinen zweiten kulinarischen Schock erleben.

 

Dann weiter fragen und suchen: Wir suchen einen Paddelverleih. Und finden keinen. Die Touri-Info hat ja geschlossen, da kann man nicht fragen. Wir gehen zu einem Wassersportverein, da soll man Boote leihen können. Eine Jugendgruppe-Leiterin verweist mich auf ein Schild: „Bereitschaftstelefon“ steht da. Ich rufe die Nummer an. „Derzeit ist dieses Telefon nicht besetzt.“ Aha.

 

Paddlerparadies sieht anders aus….

 

Letzte Hoffnung. Der Yachthafen. Mittlerweile geht es auf die 30 Grad zu, im Grunde ist es eigentlich viel zu heiß für Wassersport.

 

Tatsächlich finden wir einen reizenden Bootsverleih, es gibt nur noch einen Kanadier und ein Tretboot. Der sportliche Ehrgeiz ist mittlerweile gleich Null. Wir entscheiden uns deswegen für ein Tretboot.

 

Nach einer Stunde ist uns so heiß, dass wir uns einen ganz großen Schirm wünschen. Haben wir nicht. Wir haben nur Hüte. Die sind zu klein, um wirklich vor der Sonne zu schützen.

 

Und springen ins Wasser, das kühlt aber fast gar nicht. Nach zwei Stunden auf der Havel sind wir wie gebraten und müssen uns zwei Stunden in der Pension ausruhen. Macht man eigentlich nicht, in der prallen Mittagssonne bei 31 Grad auf einem Tretboot sein….Von dort ins Wasser springen ist übrigens einfach. Die Kunst ist, wieder ins Boot zu kommen. Es gibt nur so eine Minileiter, an der frau sich hochziehen muss.

 

Die Altstadt auf der Insel ist übrigens schön, allerdings stehen ein Drittel der Läden leer. Viele Handwerkerläden gibt es, vor allem Uhrmacher. Lebensmittelläden sehen wir hier gar nicht.

 

 

Der Verein "DenkMal und Leben"

Höhepunkt des Tages ist nicht nur, dass wir einen Geldautomaten finden, sondern auch ein grandios schönes Café mit einem ganz besonderen Garten, einem alten Fachwerkhaus. Dort haben früher die „Domherren“ gelebt. Wir sind wie verzaubert von dieser Entdeckung, laben uns an selbstgemachten Erdbeer-Quarkkuchen und bestaunen diese Mischung aus Garten, Gemüseanbau und Eselhaltung. Ich spreche einen Mitarbeiter aus dem Café an, ob er uns etwas erzählen kann zur Geschichte des Hauses. Das macht er gerne, setzt sich zu uns an den Tisch. Er gehört zu dem Verein „DenkMal und Leben“, der eigens zur Rettung des alten Gebäudes und zur Neugestaltung des ganzen Grundstücks gegründet wurde. Der Verein hat sich sogar Beratung aus Italien geholt, schließlich ist hier die italienische Renaissance Vorbild. Da sind sie wieder: "die" Italiener wissen wie das geht, Umgebungen schön zu gestalten und alle Sinne zu verzaubern.

 

Später: Überrascht sind wir, dass der Dom geöffnet hat. Wir rechnen gar nicht mehr mit Orten, die geöffnet haben. Ich erfahre endlich, was es mit der „Straße der Romanik“ auf sich hat. Damit sind „88 Bauwerke in Sachsen-Anhalt" gemeint. Der 850-Jahre-alte Dom von Havelberg gehört dazu.

 

Abends haben wir dann mehr Glück mit dem Essen. Das Restaurantbesitzer-Ehepaar beklagt, dass es fast unmöglich ist, Personal zu bekommen. Sie sind pausenlos am Arbeiten und man sieht ihnen die Anstrengung an. Das ist kein Einzelfall. Überfall im ländlichen Raum stehen Gasthöfe leer, kein Personal.

 

 

Abends an der Havel:

Von unserer Pension aus überquert man eine Ministraße, geht durch den Garten der Gastgeber und ist dann gleich am Wasser. Wer will kann hier übrigens schwimmen.

Wir genießen die ungemein ruhige und friedliche Abendstimmung. Die Gärten sind alle sehr gepflegt und phantasievoll. In Havelberg mündet die Havel in die Elbe. Irgendwie romantisch. Sofort bekomme ich Fernweh.

 

Unsere Abend-Unterhaltung wird allerdings immer mal wieder gestört durch einen einzelnen Mann, oben nackt, unten trägt er eine gefährlich nach unten rutschende Hose, tätowierte Arme, Kugelbauch, den er beim Gehen stolz nach vorne schiebt. Er latscht immer wieder vorbei an uns, hin und her. Auf den ersten Blick kein Sympath. Aber: Frau soll die Männer nicht nach ihrem Äußeren beurteilen.

 

Denn: Dieser Einheimische bleibt auf einmal vor uns stehen und sagt: „Ist das denn bequem für euch auf den Steinen? Ihr könnt euch gerne unten ans Wasser setzen, da könnt ihr gemütlich in der Hollywood-Schaukel sitzen.“ Wir schauen nach rechts, da waren uns schon so einige Dekos am Weg aufgefallen. „Sind Sie Künstler?“ frage ich. „Nee“, sagt er. „Das macht alles meine Frau. Ich bin Vater von fünf Kindern.“

 

Er ist sehr freundlich wie alle Einheimischen, die wir hier erleben. Wir probieren es aus. Setzen uns um. Fühlen uns aber umgeben von Krimskrams, diversen unklaren Gegenständen und schmuddeligen Handtüchern nicht so wohl und gehen zurück.

 

Als er wieder mal an uns vorbeilatscht, sage ich: „Vielen Dank für Ihr großzügiges Angebot. Aber hier ist die Sicht besser.“ Das stimmt auch.

 

 

Abfahrt am Sonntag:

Meine Freundin warnt heute bereits am frühen Morgen: "Es soll Gewitter geben." Ich ignoriere ihre Prophezeihung. Heute wird sie ausnahmsweise mal unrecht haben.

 

Nachdem wir uns herzlich von unserer zauberhaften Gastgeberin Frau Strunck verabschiedet haben, radeln wir nochmals über die Insel und entdeckten dabei jenes Zentrum, das einst mal eine Jugendherberge und ein florierender Paddelverleih war: der ELCH, das erlebnispädagogische Zentrum. Das Haus kann man kaufen, steht leer.

 

Auf der anderen Seite der Havel finden wir den Havelradweg und fahren ehrlich gesagt überwiegend nicht an der Havel entlang. Liebe Marketingfreunde: Das ist geschummelt!

 

Wunderschönes Garz

Gleich zu Beginn, auf dem Weg in das wunderschöne Örtchen Garz, halten wir gleich wieder an und informieren uns über ein großes NABU-Projekt, da geht es um den unteren Havelverlauf, Feuchtgebiete, ein Paradies für Vögel. Hier nistet das seltene Blaukelchen lesen wir und die „gebändigte Prachtlibelle“ lebt hier auch, der Flussbettläufer ist hier auch zuhause. Und natürlich der Rotmilan schwebt über den Feldern. Den entdecken wir tatsächlich während der Radtour immer mal wieder.

 

Am häufigsten sehen wir Storchennester. Meist nisten sie in der Nähe von Kirchen. Hauptsache hoch oben. Die kleinen recken ihre Schnäbel aus dem Nest und die Storchenmütter stehen ganz und gar senkrecht im Nest und beschützen die Jungtiere.

 

Dann kommen wir nach Garz: einem ursprünglich slawischen Runddorf, heute ein Juwel zwischen Havel und Elbe. Durch mehrere Radwanderwege und Wasserwege ist Garz in die herrliche Auenlandschaft des Natuschutzgebietes "Untere Havel" eingebunden. Wir entdecken die denkmalgeschützten "Havelhöfe“. Dort gibt es für 20,00 Euro pro Nacht Radlerunterkünfte, außerdem Ferienwohnungen und einen "Kulturstall". Sehenswert ist auch die alte wendische Kirche mit ihrem achteckigen Grundriss. In der Kirche fühlt sich das quadratisch an. Es gibt sogar einen kleinen Hafen mit "Slipanlage".

 

Das zweite Highlight des Tages: Das Schiffsrestaurant „Der Klapperstorch“ im Molkenberg. Und endlich haben wir mal Glück mit den Öffnungszeiten: das Restaurant hat donnerstags bis sonntags auf und zwar schon ab 11 Uhr morgens. Sensationell. Essen ist prima, schöne Umgebung. Wir sehen viele Paddler, auch einzelne Holzboote. Hier wird geschippert, was das Zeug hält. Hier also ist das Paddlerparadies...

 

Auf dem Biwakplatz Grütz kann ich endlich schwimmen gehen.

 

Schon lange vor Rathenow zieht sich der Himmel zu, die Sonne verabschiedet sich. Wir wollen nach Hause und glauben auch nicht, dass wir in der „Optiker-Stadt“ ein leckeres Lokal finden. Sobald das Wetter in Brandenburg schlecht wird und keine Hoffnung auf gutes Essen besteht, möchte ich nach Hause, nach Berlin.

 

Wir fahren eine gute Stunde bis Südkreuz. Und gönnen uns eine leckere Pizza und einen frischen Salat im geliebten Pizza-Club in Schöneberg. Dort bekommt man manchmal kein Besteck zum Essen, aber es ist trotzdem sehr nett.

 

Beim nächsten Ausflug buchen wir eine Ferienwohnung. Einen Lebensmittelladen findet man sicherlich immer.

 

Wer Lust bekommen hat in die Hansestadt Havelberg zu reisen, dem empfehle ich wärmstens die Pension Havelblick. Man kann auch in dem schönen Garten frühstücken und einen hübschen Kater beim Faulenzen zuschauen. Der muss sich keine Sorge um das gute Essen machen. Mäuse gibt es überall! Dolce vita!

 

 

 

 

 

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